Eine Frage der Balance

Vom einstigen Bullenbeißer und treuen Diensthund bis hin zum verschmitzten Familienmitglied – der Boxer hat viele Facetten. Zu Besuch in einem Mehrgenerationenhaushalt mit vielen Pfoten
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BIld: Sandra Allekotte

„Die Schuhe können Sie ruhig anlassen!“, ruft Claudia Pfeiffer-Nagel uns entgegen, als wir vor ihrem Haus im pittoresken Bad Ditzenbach nahe Stuttgart von zwei ihrer quirligen Junghündinnen, Netty und Q, überschwänglich begrüßt werden. Wir trauen uns kaum, das moderne und stylisch eingerichtete Haus mit Schuhen zu betreten. Als wir im Wohnzimmer auf Mutterhündin Jubilee und ihre fünfköpfige Welpenbande treffen, ist es endgültig um uns geschehen und wir sind sofort schockverliebt. Spätestens jetzt zeigt sich, dass die Empfehlung des Schuhe-Anlassens keine höfliche Floskel, sondern ein ebenso gut gemeinter wie weiser Rat der Gastgeberin war. Umgehend haben die quietschfidelen Youngsters unser Schuhwerk zu ihrem neuen Spielzeug auserkoren. Fotografin Sandra zieht es dann doch vor, ihre Lederschuhe auszuziehen (hey, die sind neu!), um sie vor allzu erkundungsfreudigen Welpenzähnen in Sicherheit zu bringen. Dafür wird sie später mehrfach über das Welpengitter fliehen müssen, wenn die Rasselbande Kurs auf ihre nun ungeschützten Füße nimmt.

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Können diese Augen lügen? Boxer-Fans lieben die ganz besondere Mimik der Rasse    BIld: Sandra Allekotte

Claudia Pfeiffer-Nagel und ihr Mann Jochen sind seit ihrer Jugend im Boxer-Klub aktiv und züchten die Rasse inzwischen seit über 20 Jahren: „Der Boxer war nie ein klassischer Modehund. Viele Menschen können mit der kurzen Schnauze wenig anfangen – wir dagegen waren gerade vom typischen Boxer-Gesicht sofort fasziniert“, schwärmt die Züchterin. „Diese eleganten und athletischen Hunde haben eine richtige Mimik, über die sich ihre Lebensfreude, ihr Humor, aber auch ihr Selbstbewusstsein ausdrückt. Mit Druck und Drill erreicht man beim Boxer wenig, da schaltet er sofort auf Durchzug. Den Respekt eines Boxers muss man sich verdienen.“ Hier kommt wohl der Sturschädel der English Bulldog zum Vorschein, die bei der Entstehung der Rasse eingekreuzt wurde und von der der Boxer seine weiße Zeichnung ebenso wie die kurze, breite Schnauze geerbt hat. „Die Boxer-Zucht ist immer ein Balance-Akt. Wir möchten sportliche, kraftvolle Hunde, die dabei nicht plump und schwer erscheinen. Bei aller Power und Energie sind Nervenstärke und ein ausgeglichenes Wesen wichtig. Die Hunde dürfen nicht völlig überdreht sein und müssen von sich aus zur Ruhe kommen, wenn keine Action geboten ist. Und natürlich dürfen die Schnauzen nicht zu kurz sein, dennoch muss die Bullenbeißer-Vergangenheit zu sehen sein.“ Gemeint ist der Brabanter Bullenbeißer, der als Urvater des Deutschen Boxers gilt. Im Mittelalter werden diese großen und starken Hunde für die Jagd auf Wildschweine und Bären eingesetzt. Später sind sie beliebte Metzger- und Fleischerhunde. Der Name „Boxer“ taucht erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Als erster Rassezuchtverein gründet sich der Boxer-Klub 1895 in München. 1924 wird die Rasse als „Diensthund“ anerkannt und in beiden Weltkriegen als Militärhund eingesetzt. Daher rühren wohl auch der Mut und die Entschlossenheit des sonst so menschenbezogenen und verschmusten Familienhundes, dessen Wesen bereits den berühmten Zoologen Alfred Brehm (1829-1884) faszinierte. Auch am funktionalen Körperbau und der muskulösen Statur ist heute noch erkennbar, wofür die Rasse einst gezüchtet wurde.

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BIld: Sandra Allekotte

Als Claudia Pfeiffer-Nagel ihre beiden ältesten Hündinnen Hetty (10) und die unangefochtene Chefin Giulia (11) ins Wohnzimmer holt, bekommen wir einen Eindruck von der boxertypischen Wachsamkeit, von der in jeder Rassebeschreibung die Rede ist. Die grauen Eminenzen beäugen und beschnuppern uns ganz genau. „Bei den jüngeren Hündinnen erleben Sie das nicht, denn es ist der Job der beiden Älteren, aufzupassen und das Rudel nach außen hin zu schützen.“ Insgesamt fünf erwachsene Hündinnen – allesamt Gewinnerinnen nationaler und internationaler Preise – leben derzeit bei den Pfeiffer-Nagels. Und natürlich die fünf zuckersüßen Welpen aus dem aktuellen S-Wurf, die in einigen Wochen ausziehen werden zu ihren neuen Familien. Über 400 Anfragen hatte Claudia Pfeiffer-Nagel alleine für diesen Wurf. Im Unterschied zu anderen Züchtern gibt sie ihre Jungtiere erst im Alter von zehn Wochen ab: „Mit acht Wochen sind die Welpen noch viel zu klein. Das ist eine entscheidende Prägephase, in der die Hunde im Rudelverband so viel voneinander lernen. Wenn Interessenten für die Welpen mich nach Erziehungstipps fragen, sage ich immer: Schaut euch an, wie die Hündinnen die Kleinen erziehen. Da gibt es keine großen Diskussionen, sondern nur Ja oder Nein.“ Auch während unseres Besuchs hört man es immer mal wieder knurren und bellen, wenn die Alten die Jungen maßregeln. Claudia Pfeiffer-Nagel hat ihre Pappenheimer die ganze Zeit über im Blick. Sie kann genau einschätzen, bis wohin sie eine Interaktion laufenlässt und wann sie einschreitet. „Ein Rudel zu führen, bedeutet auch, Ordnung zu halten. Und die Ordnung schaffe ich, das tun nicht die Hunde.“ Wenn es im Wohnzimmer zu wild zugeht, schickt sie immer wieder eine oder mehrere Hündinnen nach draußen in den Garten. Als die drei jüngeren Hündinnen gemeinsam über die Wiese fetzen, offenbaren sich nicht nur die sportliche Eleganz und Schönheit dieser Rasse in ihrer Reinform – es zeigt auch, in was für einem Paradies die Hunde hier leben.

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Gemeinsam ist man weniger allein – nach einem Vormittag voller Action ist jetzt Gruppen-Chillen angesagt   BIld: Sandra Allekotte

Bei all dieser körperlichen Power – kann ein Boxer auch in der Stadt glücklich werden? „Auf jeden Fall! Auch das ist ein Vorzug dieser Rasse. Boxer wollen zwar körperlich und geistig gefordert werden, es sind aber auch keine Hunde, die täglich 25 km zurücklegen müssen. Und ein Boxer möchte vor allem eines: nah bei seinen Menschen sein. Wir fahren mit unseren Hunden öffentliche Verkehrsmittel wie Bus oder Bahn und können sie problemlos mit in jedes Hotel nehmen. Wenn er entsprechend ausgelastet wird, ist der Boxer ein sehr ausgeglichener, nervenstarker und damit auch stadttauglicher Hund.“ Claudia Pfeiffer-Nagel vergibt ihre Welpen auch an Ersthundebesitzer. Die Voraussetzung: Das Bauchgefühl muss stimmen und die Menschen müssen sich im Klaren sein, dass Hundeerziehung mit Aufwand verbunden ist. „Ein Hund dieser Größe, der ausgewachsen zwischen 25 und 40 kg wiegt, muss gesellschaftstauglich sein. Ich lege den Welpenkäufern ans Herz, mit ihrem Hund auf die Begleithundeprüfung hinzuarbeiten. Ob sie diese dann schlussendlich ablegen oder nicht, ist egal. Aber durch das gemeinsame Training werden schon mal die Grundpfeiler für eine gute Mensch-Hund-Beziehung gelegt. Wer im ersten Jahr genug Zeit in die Erziehung investiert, hat nachher einen ganz tollen Hund.“ Und die Züchterin empfiehlt natürlich, mit einem Powerpaket wie dem Boxer die ein oder andere Form von Hundesport wie Mantrailing oder Obedience zu machen – hier ist der athletische Boxer in jeder Hinsicht ein Multitalent, das für jeden Spaß zu haben ist. Trotzdem ist der Charakterkopf deshalb nicht unbedingt ein Musterschüler auf jedem Hundeplatz: „Die meisten Hundeschulen kommen mit der Rasse nicht klar. Als Welpe sitzt ein Boxer nicht zehn Minuten ruhig neben seinem Menschen. Der braucht Action! Eigentlich ist ein Boxer das krasse Gegenteil eines Border Collies“, grinst die Züchterin. Daher bieten viele Boxer-Vereine eigene Erziehungskurse an, wo auf die Besonderheiten der Rasse eingegangen wird. Dennoch kritisiert Claudia Pfeiffer-Nagel, dass die Zuchtkriterien der Rasse bis heute sehr auf den Gebrauchshundesport fokussiert sind, wo „hohe Triebigkeit“ gewünscht ist. Und das, obwohl 90 Prozent der Boxer heute als reine Familienhunde gehalten werden. „Im Gebrauchshundesport – unter den Berufshundesportlern, wie ich sie nenne – werden wir nicht so ganz ernst genommen. Zum Glück ist das so. Der Boxer-Besitzer neigt zum Kult um diese Hunde. 70 Prozent der Halter behandeln die Hunde wie die Könige. Das bedeutet aber auch, dass im Hundesport niemand seinen Hund bis zur letzten Konsequenz führt. Da scheitern wir am Gefühl.“

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BIld: Sandra Allekotte

Das Image der Rasse hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. „In der 1970er-Jahren galt der Boxer eher als Schickimickihund. Dass Geld damals keine Rolle spielte, sieht man heute noch an der Ausstattung vieler Vereinsheime.“ Während das Durchschnittsalter der Welpenkäufer bei den Pfeiffer-Nagels früher bei 50-60 plus lag, interessieren sich zusehends auch junge Menschen für die Rasse. Auch optisch hat sich der Boxer verändert. „Man ist zum Glück wieder abgekommen von den sehr kurzen Schnauzen, wie sie in den 1990er- Jahren angesagt waren.“ Und auch das Kupierverbot, das in Deutschland 1987 für die Ohren und 1998 für den Schwanz erlassen wurde, hat das Erscheinungsbild merklich verändert. „Das europaweite Ausstellungsverbot für kupierte Hunde trägt dazu bei, dass auch in Ländern wie Italien oder den Ostblockstaaten weniger kupiert wird, da die Hunde bei Wettbewerben sonst nicht gezeigt werden dürfen.“ Und auch weiße Boxer, die lange als „Fehlfarbe“ galten, da man in ihrem ursprünglichen Gebrauch beim Militär keine Verwendung für weiße Hunde hatte, gehören heute mehr und mehr zum Erscheinungsbild der Rasse. Ihre weißen Boxer-Welpen aus früheren Würfen konnte Claudia Pfeiffer-Nagel jedenfalls allesamt ohne Probleme in gute Hände vermitteln. Nachdem sie während unseres Gesprächs gezeigt hat, wieviel Temperament, Charme und Humor in ihr steckt, schläft die gesamte Gang nun selig schnarchend im ganzen Wohnzimmer verteilt über Hundekissen, Sofas und Sessel. Man sieht: Bei aller überschäumenden Lebensfreude kommen die Hunde auch aus sich selbst heraus zur Ruhe. Es braucht vorher nur eben einen Vormittag geballter Rudel-Action.

 

Tags: dogs, boxer