Das hab ich auf dem Schirm

Online-Sprechstunden beim Tierarzt boomen. Das Versprechen: immer erreichbar – auch am Wochenende und an Feiertagen. Doch funktioniert das? Und wo sind die Grenzen?
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Bild: Sandra Allekotte

Susi juckt’s. Überall. Sie knibbelt, leckt und schubbert an Bauch und Beinen. Erst denkt Frauchen Astrid, dass es nur vorübergehend ist. Doch als die Kratzlust auch am dritten Tag nicht verschwindet und die Haut an Bauch und Pfoten nun auch gerötet ist, macht sie sich langsam wirklich Sorgen. Mist, es ist Samstag, die Tierarztpraxis hat zu. Also direkt in die Notfall-Tierklinik? Astrid überlegt – und googelt erst mal. Nein, nicht nach einer möglichen Behandlung für Susis Symptome, sondern nach Online-Tierärzten.

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Bild: Sandra Allekotte

In Zeiten, in denen vieles am Bildschirm erledigt wird, hat das Thema Telemedizin neuen Schwung bekommen. Neu ist die Idee zwar nicht, medizinische Fragen via Ferndiagnose zu diskutieren (sowohl für Menschen als auch für Tiere). Der Ärztetag beschloss 2018, die Beschränkungen für Ferndiagnosen zu lockern. Jedoch kämpft die Telemedizin in Deutschland bisher vor allem mit zwei Problemen. Die mangelnde Akzeptanz der gesetzlichen Krankenkassen ist eines davon, denn ohne Bezahlung durch die Kassen ist keine Leistungserbringung möglich. Aber auch die Technik macht den Telemedizinern das Leben schwer: In vielen Gegenden in Deutschland mangelt es schlicht an der fehlenden Bandbreite der Internetverbindung.

Nichtsdestotrotz hat die Pandemie gezeigt: Medizin am Screen ist ein Modell mit Zukunft – und zwar auch für Tiere. Es gibt inzwischen zahlreiche Anbieter im Markt, die so klingende Namen tragen wie Dr. Sam, Pfotendoktor, FirstVet oder Dr. Fressnapf. Das Angebot wächst stetig – und die Preise sind vergleichsweise moderat, sie belaufen sich auf etwa 20 bis 30 Euro pro Sitzung. Die Gebührenordnung für Tierärzte gilt zwar auch für Online-Sprechstunden. Doch die pauschale Notdienst-Gebühr von 50 Euro, die bei einem Tierarztbesuch außerhalb der Sprechzeiten, am Wochenende und an Feiertagen erhoben werden muss, fällt bei Online-Sprechstunden weg. Beratung bei einem Tierarzt, unabhängig von Zeit und Ort, dazu geringere Kosten – für Astrid gute Argumente, sich in diesem Fall an einen Telemediziner zu wenden, um ihrer Susi zu helfen. Doch welcher soll es sein? Ein hohes Google- Ranking ist ja nicht zwangsläufig ein Kriterium für Topqualität. Positive Bewertungen auf Plattformen wie trustpilot dagegen schon eher. Daher entscheidet sie sich für den Anbieter FirstVet, ein noch junges Unternehmen, das 2016 von den beiden Schweden David Prien und Joakim Widigs gegründet wurde und seit einigen Monaten auch in Deutschland aktiv ist. Wenig überraschend: David ist natürlich selbst Hundebesitzer. Und immer, wenn einer seiner beiden Vierbeiner Chili und Esther an auffälligen Symptomen wie Durchfall oder einer Magenverstimmung litt, war David unschlüssig – ab zum Tierarzt oder lieber warten? Daraus entstand seine Idee einer Tierarzt-App, die eine schnelle und unkomplizierte Beratung durch einen qualifizierten Tierarzt ermöglicht. Ziel ist es, dass die Hundehalter nicht mehr die Symptome des Hundes googeln, um herauszufinden, wie schlimm es um ihn steht, sondern sich direkt an die Profis wenden.

Damit Astrid einen Termin beim Telemediziner machen kann, muss sie sich zunächst die FirstVet-App auf ihr Handy laden, erhältlich ist sie kostenfrei im App Store oder bei Google Play. Dann erstellt sie ein Profil für sich und Susi, das dauert ca. fünf Minuten. Dabei hat sie auch die Möglichkeit, Susis Symptome zu beschreiben und Bilder hochzuladen. Sie wählt eine Uhrzeit, die ihr passt – und bekommt einen Termin für eine Sprechstunde, die bereits in 15 Minuten startet. Das geht aber fix! Kurz vor dem Beginn erhält sie eine SMS und meldet sich in der App an. „So, es geht um Susi, nicht wahr?“, begrüßt sie der Cheftierarzt von FirstVet, Björn Becker, der neben seiner Arbeit als Telemediziner auch zwei Haustierpraxen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen leitet. Vor dem Telefonat hat er sich die – von Astrid recht spärlich ausgefüllten – Informationen in dem Profil angesehen, er weiß also bereits grob Bescheid, worum es geht. Juckreiz. Das allein reicht ihm natürlich nicht, also bittet er Astrid, den Fall zu schildern, und hört erst einmal zu. Seine erste Frage, nachdem Frauchen die Symptome und Susis Verhalten beschrieben hat, lautet dann: „Waren Sie damit schon einmal beim Haustierarzt?“ Bereits nach wenigen Minuten wird klar: Dem Telemediziner geht es nicht darum, den Haustierarzt zu ersetzen, schnelle Diagnosen zu erstellen und Präparate zu verschreiben. Das dürfte der Telemediziner auch gar nicht, denn seine Aufgabe ist lediglich beratend, wie er später im Interview erklärt. Diagnosen dürfen, so zumindest der aktuelle rechtliche Stand, nämlich nur sehr begrenzt gestellt werden – derzeit sind nur sogenannte Verdachtsdiagnosen und Differenzialdiagnosen erlaubt, es kann also eine Vermutung über eine bestimmte Krankheit geäußert werden, aber keine gesicherte Diagnose.

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Bild: Sandra Allekotte

Bei den unkomplizierten Fällen, die keinen drastischen Krankheitsverlauf vermuten lassen, dürfen Tierärzte im Rahmen der Online-Sprechstunde auch Ratschläge geben, was zu tun ist. Daher stellt Tierarzt Becker nach Astrids Schilderungen auch viele Fragen: „Hatte Susi das schon immer?“, „Entstehen kahle Stellen beim Kratzen?“ – Nein, tun sie nicht. Dafür hat Susi aber Warzen, und die lässt sich der Tierarzt dann zeigen. „Schalten Sie die Kamera mal um, das geht ganz einfach unten in der App.“ Im Prinzip wird der Tierhalter zum verlängerten Arm des Arztes. Deshalb ist es wichtig, dass die Telemediziner bereits ausreichend Erfahrung im realen Praxisalltag gesammelt haben und dadurch konkrete Anweisungen geben können. Manchmal, so erzählt Herr Becker, macht er Sachen auch einfach an sich selbst vor, z. B. wie man die Lefze anhebt und aufs Zahnfleisch drückt. „Als Tierarzt denkt man sich ja: Was würde ich jetzt tun? Das muss man dem Tierhalter dann auch anschaulich beschreiben“, erklärt er.

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Bild: Sandra Allekotte

Astrid kämpft ein bisschen mit der Situation und merkt: Jetzt wäre eine zweite Person gar nicht unpraktisch. Einer hält das Handy und spricht, der andere untersucht. Das passiert auch gar nicht so selten, verrät der Tierarzt. Vor allem wenn der Vierbeiner – nachvollziehbarerweise – gerade keine Lust auf eine Untersuchung hat, ist das ziemlich hilfreich. Susi stellt sich glücklicherweise als ziemlich pflegeleicht heraus und lässt alle Berührungen mit stoischer Geduld über sich ergehen. Das liegt auch an den freundlichen, ruhigen Anweisungen in der Sprechstunde. Hund und Halter sollen sich wohlfühlen und Sorge sowie Unsicherheit genommen werden. „Sieht ein bisschen so aus wie eine Kontaktdermatitis“, meint Björn Becker schließlich, das Gespräch dauert nun schon gut zehn Minuten. „Wenn das einmal mit dem Juckreiz losgeht, wird die gesamte Haut empfindlich. Das ist eine überschießende Reaktion des Immunsystems“, erklärt er. Das deckt sich ziemlich genau mit Astrids Beobachtungen. Hautprobleme sind übrigens recht typische Fälle, mit denen er sich in den Online-Sprechstunden auseinandersetzt. Ähnlich häufig kommen Beschwerden wie Erbrechen und Durchfall oder einfachere Augenerkrankungen und Ohrenbeschwerden zur Sprache. Auch Zweitmeinungen können über eine Online-Sprechstunde eingeholt werden, wenn zum Beispiel Tierhalter das Vorgehen bei anstehenden OPs noch einmal erklärt haben wollen und sich nicht trauen, erneut beim Tierarzt nachzufragen. Die Ärzte lassen sich dann immer die Daten des normalen Haustierarztes geben. Dieser bekommt eine Rücküberweisung oder eine Befundüberweisung, wenn der Halter das möchte. „Dort steht drin, welche Befunde wir erhoben und was wir dem Tierhalter erzählt haben.“ Selten sind in der Tele-Sprechstunde auch mal Probleme wie z. B. Lahmheit dabei. Solche Fälle liegen Björn Becker besonders, da er viel Erfahrung im Bereich Orthopädie hat. Oft sieht er sich für eine Beratung die Tiere eine ganze Weile einfach nur im Lauf an. Dafür eignet sich etwa ein Video, aufgenommen beim Spaziergang, ziemlich gut – es ist perfekt zur Analyse des Gangbilds.

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Bild: Sandra Allekotte

Bei Susi rät Herr Becker, nicht nur den jetzigen Juckreiz beim Haustierarzt mit Medikamenten behandeln zu lassen, sondern auch Ursachenforschung zu betreiben. „Da sollten Sie jetzt mal einen Schritt weiterkommen“, findet er. „Es gilt herauszubekommen, ob es eine Kontaktdermatitis oder womöglich auch eine Futtermittelproblematik ist.“ Astrid wird hellhörig, denn sie hat in letzter Zeit neben dem gewohnten Futter auf Pferdefleischbasis auch Leckerlis aus Wasserbüffel zugefüttert. Der Tierarzt erklärt, wie eine Futtermittelausschlussdiät funktionieren würde, und nimmt Astrid auch die Bedenken, dass sich Susi langweilen würde, falls sie nur noch Pferd und Süßkartoffel gefüttert bekommt. „Der Hund sitzt ja nicht in der Natur und denkt sich: Heute hätte ich gerne mal Kaninchen und morgen ein bisschen Reh. Im Prinzip ist das dem Hund völlig wurscht. Der will satt sein.“ Insgesamt dauert die Sprechstunde 15 Minuten. Nach dem Gespräch mit dem FirstVet-Tierarzt ist Astrid tatsächlich etwas erleichtert, denn auch wenn die Informationen, die ihr der Tierarzt gegeben hat, nicht zwingend neu für sie waren, kann sie das endlose Schlecken und Knabbern von Susi jetzt zumindest besser einordnen. Per Mail erreicht Astrid wenige Minuten nach dem Telefonat ein ausführlicher und leicht verständlicher Bericht mit der Anamnese, einem aktuellen Status, einer Differenzialdiagnose und einer Behandlungsempfehlung.

Falls man also im Eifer des Gefechts mal nicht zuhört oder sich nicht alles merken kann, was der Tierarzt rät, kann man anschließend alles noch einmal in Ruhe nachlesen. Klar ist, dass Susis Leiden kein ernster Fall, geschweige denn ein Notfall war. Doch auch die gibt es zuweilen bei der telemedizinischen Beratung. Das merken die Tierärzte meist jedoch bereits anhand des kurzen Vorberichts, den die Tierhalter bei der Terminvereinbarung angeben – und den die Tierärzte sofort per Mail und SMS bekommen. Deuten diese auf einen Notfall hin, nehmen die Tierärzte umgehend Kontakt mit den Haltern auf. Bei der Beschreibung Der Hund hat gefressen, ist in den Garten gegangen, kam wieder herein, jetzt ist er irgendwie ganz komisch und auch so dick“, gingen bei Björn Becker in einem Fall sofort die Alarmglocken an. „Ich habe angerufen, obwohl der Termin eigentlich erst in 45 Minuten gewesen wäre, und habe den Haltern erklärt, dass sie den Hund einpacken und sofort zur nächsten Praxis fahren sollen. Das war glücklicherweise tagsüber. Wenn es spät am Abend ist, suchen wir auch schnell für die Besitzer die Daten einer Tierklinik raus, die 24h-Dienst hat.“ Aber eben nicht alle Fälle, die am Wochenende in einer Tierklinik aufschlagen, sind wirkliche Notfälle. „Wenn Tierbesitzer wegen Kleinigkeiten in den Notdienst kommen, bindet das Kapazitäten, die für dringende Fälle da sein müssten. Kommt dann ein Magendreher rein, der aufgrund eines 15-Minuten-Gesprächs über Hautprobleme nicht auf der Stelle behandelt werden kann, dann ist das natürlich eine Katastrophe. In solchen Fällen kann die Tier-Telemedizin den Haustierarzt und die Tierkliniken entlasten.“

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Bild: Sandra Allekotte

Die telemedizinische Sprechstunde ist also kein Ersatz für eine normale Sprechstunde beim Tierarzt, sondern eben genau das: ein Beratungsangebot, das entlastet und den Haltern Sicherheit gibt. Björn Becker geht es darum, dem Tierhalter und auch dem Tier eine entspannte und kompetente Beratung zu ermöglichen und gemeinsam die Entscheidung zu fällen, ob ein Tierarztbesuch notwendig ist oder nicht. „Wir sind kein Ersatz für den Tierarzt vor Ort, sondern vielmehr für Dr. Google oder die Eigenberatung durchs Internet“, führt er aus. „In dem Moment, in dem der Tierhalter überlegt, ob er zum Tierarzt gehen soll oder nicht, setzen wir ein.“ Die Telemedizin als genau das zu sehen, nicht mehr und nicht weniger, ist eine Herzensangelegenheit für den Tierarzt. „Ich glaube, dass Telemedizin auf Dauer eine super Ergänzung zur Behandlung vor Ort ist. Sie ist ein zusätzliches Werkzeug, das vernünftig und sinnvoll genutzt werden kann.“ Auf die Frage hin, woran man einen seriösen Anbieter für tier-telemedizinische Leistungen erkennt, beginnt Herr Becker zunächst zu lachen und sagt: „Na, wir sind die Guten!“ Dann wird er aber gleich wieder ernst. „Schauen Sie darauf, dass das System möglichst einfach verständlich und bedienbar ist und Sie bei der Registrierung und der Vorbeschreibung nicht zu viele persönliche Daten offenlegen müssen. Außerdem würde ich darauf achten, wie lange der Anbieter bereits auf dem Markt ist. Zudem finde ich, dass die Unabhängigkeit von Kliniken und Praxen auch ein wichtiger Punkt ist. Letztlich ist es aber ähnlich wie beim Haustierarzt: Wenn man als Tierhalter anschließend ein gutes Gefühl hat, dann war das auch alles okay.“ Der überwältigende Teil der Tierhalter, die den Service nutzen, bewertet diesen auch durchwegs als positiv. Die häufigsten Beschwerden betreffen Technikprobleme, keine medizinischen Fragen. 

Doch natürlich gibt es auch kritische Stimmen zur Tier-Telemedizin, die von Haltern, aber auch von Tierärzten kommen. Ein Tier kann, im Gegensatz zur Humanmedizin, sein Leiden nicht selbst schildern – daher ist hier der persönliche Eindruck und die Untersuchung enorm wichtig. Selbst Videos, Bilder und Beschreibungen können eine persönliche Untersuchung nicht ersetzen, monieren einige Fachleute. Allerdings fällt beim Termin am Bildschirm der Faktor weg, dass Tiere in einer Praxisumgebung oft so gestresst sind, dass dies eine Diagnosestellung erschwert und die Tiere ihre Leiden dann womöglich sogar verstecken. Wie so oft liegt die Wahrheit wohl in der Mitte: Telemedizin ist kein Allheilmittel, aber eine Ergänzung des medizinischen Angebots. Eine, die in Zukunft sicher verstärkt genutzt werden wird. Susi sind derartige gesellschaftspolitische und ethische Diskussionen gerade jedenfalls ziemlich egal. Sie gähnt herzhaft, und dann rollt sie sich zufrieden neben ihrem Frauchen auf dem Sofa ein. Warum auch nicht, war ja nicht viel los, außer ein paar tastenden Griffen und einer Handvoll zusätzlicher Leckerlis nach dem Telefonat.

Tags: dogs, Tierarzt